Dieses war ihr größter Streich
Neues von der Komponistenklasse Dresden
Dresdner Neueste Nachrichten – Wieland Schwanebeck, 13.11.18
Wenn versierte Musiker neuere und allerneueste Musik zum Klingen bringen, ihren Instrumenten ungeahnte Klangdimensionen ablauschen und sogar den Pantomimen in sich entfesseln, dann lädt wahrscheinlich die Komponistenklasse Dresden zum jährlichen Konzert. Dieses fand im Rahmen des Festivals „4:3 Kammer Musik Neu“ unter der Überschrift „Streichquartett PLUS“ im Festspielhaus Hellerau statt, und wie immer kamen die Zuhörer angesichts der Ideenvielfalt sowie der zur Schau gestellten Spielfreude nicht aus dem Staunen heraus. In diesem Jahr oblag es dem kanadischen Streichquartett Quatuor Bozzini – Clemens Merkel und Alissa Cheung an den Geigen, Stéphanie Bozzini an der Bratsche und Isabelle Bozzini am Cello –, sein Instrumentarium ,gegen den Strich‘ zu bürsten und Stücke aus der Feder von 8- bis 15-jährigen Schülern zur Uraufführung zu bringen, die nicht nur tradierte Formate aufgreifen und weiterdenken, sondern auch originelle Konzeptionen und etliche Erzählideen dokumentieren.
Jonas Kerdas Streichquartett verrät eine selbstbewusste Auseinandersetzung mit den eigenen klassischen Vorbildern, das „Verspätete Glockenspiel“ von Tejas Siemes dagegen einen versierten, pointiert strukturierten Spannungsbogen. Hannes Kerdas „Bessere Hälfte“ für zwei Violinen (der mehrdeutige Titel mag ein subtiler Seitenhieb gegen die ausnahmsweise stumm bleibenden Instrumente sein) setzt geschickt Dissonanzen als Teil eines beharrlich-besserwisserischen Beziehungsstreits in Szene, und immer wieder changieren effektvoll die Harmonien, so auch in den dichten Satzminiaturen, die Dejan Konstantin Baltrusch unter dem Titel „Stimmungswechsel“ aufbietet.
Wie die Texte im Programmheft verraten, gehen die jungen Komponisten häufig von selbst ausgedachten Geschichten oder eigenen Erlebnissen und Beobachtungen in Flora und Fauna aus. So erzählt Katja Elisabeth Steude von einer „Nacht an der Ostsee“ und Hannah Katterfeld mit effektvoll gedämpftem Glissandieren davon, was „Draußen im Dunkeln“ geschieht, während Ranon Baltrusch für seine Tierschau „Auf einer Waldlichtung“ nicht nur Fuchs und Hase beschwört, wie sie einander Gute Nacht wünschen. Dass die Schüler der Komponistenklasse nicht bloß in der Schublade schlummernde Stücke in die jeweilige Konzertbesetzung gießen, sondern im Unterricht mit Silke Fraikin und Johannes Korndörfer (denen ein großer Teil des Schlussapplauses gebührt) sowie in allerlei Workshops das Instrumentarium intensiv studieren und auszuschöpfen wissen, also ihre Hausaufgaben gründlich erledigen, verraten Stücke, die das Ensemble genau auf seine Konventionen und Spieltechniken befragen, ohne dass Freunde der Quartett-Literatur irgendwelche, nun ja, ,Abstriche‘ machen müssten.
Richard Zeißig erweckt mit allerlei Spiccato- und Pizzicato-Gewimmel einen ganzen Haufen „Ameisen“ zum Leben und wirft gleich noch ein pastorales „Paradies“ hinterher, für dessen Umsetzung das Quartett auch mit Regenmachern percussiert, während Frida Leonore Ponizil für ihr „Frühlingsgezwitscher“ auf effektvolle Glissandi und Flageoletts setzt. Tom Seidel wiederum entlockt in seinem „Gewitter“ den Instrumenten vielfältige Regen- und Blitzeffekte. Dass das Quatuor Bozzini auch ohne Bogen den Bogen raushat, zeigt sich u.a. in Laura Fantanas „Tag am Atlantik“, wo ein Luftstrom in den F-Löchern der Instrumente ein ganzes Meeresrauschen ersetzt, oder wenn Carl Fantana das Ensemble in die „Wüste“ schickt und vorm erlösenden Wasserplätschern erstmal Sand schlucken lässt.
Zwei Höhepunkte in Konzeption und Umsetzung gibt es unmittelbar vor und nach der Pause – Karl Anton Zeißig inszeniert mit den vier Mitspielern eine liebevoll beobachtete Straßenbahnfahrt, in der alte Damen und besoffene Fußballfans bis zur finalen Vollbremsung einander umkreisen, während Helene Scharfe nur einer Anregung aus der Google-Übersetzungsmaschine bedurfte, um für ihr „Paint Quartet“ von den Streichern auf die An-Streicher zu kommen und das Quatuor Bozzini zum Malertrupp umzufunktionieren, der seine Arbeit im Takt von klapprigen Leitern und Malerklebeband verrichtet und um die Vorherrschaft am Radioknopf ringt.
Zur abendfüllenden Konzertlänge von rund zwei Stunden trugen auch ein paar Stücke von Gastschülern bei – so waren mit Johann Jakob Rahmstorf und seiner bluesig synkopierten „Melancholie“ ein Preisträger der Orchesterwerkstatt Junger Komponisten in Halberstadt sowie drei Schüler der von Annette Schlünz geleiteten Straßburger Komponistenklasse dabei. Zu letzteren zählen Romain Gachot mit seiner von kraftvollen Melodiebögen durchzogenen „Balade dans ma vie“, Lucie Viriat mit „El primero tango“ sowie Louis-Victor Wipf, dessen musikalische Hommage an die Elbe bei Vivaldi in die Schule gegangen ist.
Den Schlusspunkt darf dann Ole Lehnert mit seiner tragikomischen, das Streichquartett auch sängerisch fordernden Revision der Mär vom „Hänschen klein“ setzen, das dem Lockruf der Liese aus einem ganz anderen Volkslied („Heut kommt der Hans zu mir“) nicht widerstehen kann.